Linearisierung

Bei der Linearisierung – ein Begriff aus der Mathematik – werden nichtlineare Funktionen oder nichtlineare Differentialgleichungen durch lineare Funktionen oder durch lineare Differentialgleichungen angenähert. Die Linearisierung wird angewandt, da lineare Funktionen oder lineare Differentialgleichungen einfach berechnet werden können und die Theorie umfangreicher als für nichtlineare Systeme ausgebaut ist.

Tangente

Tangenten an f ( x ) = sin ( x ) {\displaystyle f(x)=\sin(x)} :
blau x 0 = 0 , {\displaystyle x_{0}=0,}
grün x 0 = 3 π 4 {\displaystyle x_{0}={\tfrac {3\cdot \pi }{4}}}

Das einfachste Verfahren zur Linearisierung ist das Einzeichnen der Tangente in den Graphen. Daraufhin können die Parameter der Tangente abgelesen werden, und die resultierende lineare Funktion (Punktsteigungsform der Geraden)

y t = f ( x 0 ) + d f d x | x 0 ( x x 0 ) {\displaystyle y_{t}=f(x_{0})+{\frac {\mathrm {d} f}{\mathrm {d} x}}{\bigg |}_{x_{0}}\cdot (x-x_{0})}

approximiert die Originalfunktion um den Punkt x 0 {\displaystyle x_{0}} . Dabei ist d f d x | x 0 {\displaystyle {\tfrac {\mathrm {d} f}{\mathrm {d} x}}{\bigg |}_{x_{0}}} der Anstieg im Punkt x 0 {\displaystyle x_{0}} .

Wenn die Funktion in analytischer Form vorliegt, kann die Gleichung der Tangente direkt angegeben werden.

Der relative Fehler der Approximation ist

F ( x ) = | f ( x ) y t ( x ) f ( x ) | {\displaystyle F(x)={\bigg |}{\frac {f(x)-y_{t}(x)}{f(x)}}{\bigg |}}

Für die Funktion f ( x ) = sin ( x ) {\displaystyle f(x)=\sin(x)} gilt beispielsweise:

y ( x ) = sin ( x 0 ) + cos ( x 0 ) ( x x 0 ) {\displaystyle y(x)=\sin(x_{0})+\cos(x_{0})\cdot (x-x_{0})}

Die Bestimmung der Tangente entspricht der Bestimmung des linearen Glieds des Taylorpolynoms der zu approximierenden Funktion.

Anwendungen

Anwendung findet die Linearisierung unter anderem in der Elektrotechnik und der Regelungstechnik zur näherungsweisen Beschreibung nichtlinearer Systeme durch lineare Systeme.

Das Ergebnis einer Netzwerkanalyse ist unter Umständen ein nichtlineares Gleichungssystem. Dies kann unter gewissen Voraussetzungen in ein lineares Gleichungssystem überführt werden. Nicht die einzige, aber die einfachste Methode der Linearisierung ist die Linearisierung in einem Arbeitspunkt (kurz „AP“). Nur diese ist in den folgenden Abschnitten beschrieben.

Linearisierung der Multiplikation

In einem Signalflussplan lassen sich komplexe Systeme durch ein Blockbild darstellen, das zur qualitativen Visualisierung von mathematischen Modellen dient.

Eine Multiplikation im Signalflussplan ersetzt durch eine Addition Δ y = Δ x 1 x 2 , AP + Δ x 2 x 1 , AP {\displaystyle \Delta y=\Delta x_{1}\cdot x_{2,{\text{AP}}}+\Delta x_{2}\cdot x_{1,{\text{AP}}}}
(Arbeitspunkte x 1 , AP {\displaystyle x_{1,{\text{AP}}}} , x 2 , AP {\displaystyle x_{2,{\text{AP}}}} und y AP {\displaystyle y_{\text{AP}}} wurden zur übersichtlicheren Darstellung weggelassen)

Befindet sich in diesem Signalflussplan eine Multiplikationsstelle, so lässt sich diese durch Linearisierung in eine Additionsstelle umwandeln.

Im Folgenden bezeichnen wir mit y {\displaystyle y} das Produkt zweier Zahlen x 1 {\displaystyle x_{1}} und x 2 {\displaystyle x_{2}} :

y = x 1 x 2 {\displaystyle y=x_{1}\cdot x_{2}}

Im Arbeitspunkt können wir die Multiplikation linearisieren, indem wir x 1 {\displaystyle x_{1}} als Summe des Arbeitspunkts und der Differenz Δ x 1 = x 1 x 1 , AP {\displaystyle \Delta x_{1}=x_{1}-x_{1,{\text{AP}}}} schreiben:

y = ( x 1 , AP + Δ x 1 ) ( x 2 , AP + Δ x 2 ) {\displaystyle y=(x_{1,{\text{AP}}}+\Delta x_{1})\cdot (x_{2,{\text{AP}}}+\Delta x_{2})}

Wir können dieses Produkt nach dem Distributivgesetz ausmultiplizieren. Es ergibt sich die Summe:

y = x 1 , AP x 2 , AP + x 1 , AP Δ x 2 + x 2 , AP Δ x 1 + Δ x 1 Δ x 2 {\displaystyle y=x_{1,{\text{AP}}}\cdot x_{2,{\text{AP}}}+x_{1,{\text{AP}}}\cdot \Delta x_{2}+x_{2,{\text{AP}}}\cdot \Delta x_{1}+\Delta x_{1}\cdot \Delta x_{2}}

Wir nehmen nun an, dass das Verhältnis der Abweichungen vom Arbeitspunkt Δ x i {\displaystyle \Delta x_{i}} und dem Arbeitspunkt selber klein ist:

Δ x i x i , AP x i , AP {\displaystyle {\frac {\Delta x_{i}}{x_{i,{\text{AP}}}}}\ll x_{i,{\text{AP}}}} und somit auch das Produkt e y = Δ x 1 Δ x 2 {\displaystyle e_{y}=\Delta x_{1}\cdot \Delta x_{2}} klein ist. Die linearisierte Multiplikation lautet also:

y x 1 , AP x 2 , AP + x 1 , AP Δ x 2 + x 2 , AP Δ x 1 {\displaystyle y\approx x_{1,{\text{AP}}}\cdot x_{2,{\text{AP}}}+x_{1,{\text{AP}}}\cdot \Delta x_{2}+x_{2,{\text{AP}}}\cdot \Delta x_{1}}

Beispiel

Wähle die Zahlen:

x 1 = 2 , 4 ;   x 2 = 110 y = x 1 x 2 = 264. {\displaystyle x_{1}=2{,}4;\ x_{2}=110\Rightarrow y=x_{1}\cdot x_{2}=264.}

Nun stellt sich, die Frage, wie die Arbeitspunkte zu wählen sind. Um die Rechnung zu vereinfachen, runden wir 2 , 4 {\displaystyle 2{,}4} auf 2 {\displaystyle 2} ab und 110 {\displaystyle 110} auf 100 {\displaystyle 100} ab: Wähle also: x 1 , AP = 2 ;   x 2 , AP = 100 Δ x 1 = 0 , 4 ;   Δ x 2 = 10. {\displaystyle x_{1,{\text{AP}}}=2;\ x_{2,{\text{AP}}}=100\Rightarrow \Delta x_{1}=0{,}4;\ \Delta x_{2}=10.} Das linearisierte Produkt ist also

y 2 100 + 2 10 + 100 0 , 4 = 260 {\displaystyle \Rightarrow y\approx 2\cdot 100+2\cdot 10+100\cdot 0{,}4=260}

mit dem Fehler e y = 0 , 4 10 = 4 {\displaystyle e_{y}=0{,}4\cdot 10=4} .

Linearisierung der Division

Linearisierung einer Division dargestellt im Signalflussplan

Wir betrachten nun den Quotienten y {\displaystyle y} zweier Zahlen x 1 {\displaystyle x_{1}} und x 2 {\displaystyle x_{2}} :

y = x 1 x 2 {\displaystyle y={\frac {x_{1}}{x_{2}}}}

Analog wie zur Multiplikation entwickeln wir x i = x i , AP + Δ x i {\displaystyle x_{i}=x_{i,{\text{AP}}}+\Delta x_{i}} um den Arbeitspunkt x AP {\displaystyle x_{\text{AP}}} . Damit können wir den Quotienten wie folgt schreiben:

y = x 1 , AP + Δ x 1 x 2 , AP + Δ x 2 {\displaystyle y={\frac {x_{1,{\text{AP}}}+\Delta x_{1}}{x_{2,{\text{AP}}}+\Delta x_{2}}}}

Ausklammern der Arbeitspunkte liefert für Division:

y = x 1 , AP x 2 , AP 1 + Δ x 1 x 1 , AP 1 + Δ x 2 x 2 , AP {\displaystyle y={\frac {x_{1,{\text{AP}}}}{x_{2,{\text{AP}}}}}\cdot {\frac {1+{\frac {\Delta x_{1}}{x_{1,{\text{AP}}}}}}{1+{\frac {\Delta x_{2}}{x_{2,{\text{AP}}}}}}}}

Wir wollen nun den Zähler und den Nenner des Bruches linearisieren. Dazu verwenden wir die geometrische Reihe. Für eine Nullfolge q k {\displaystyle q^{k}} gilt:

k = 0 n q k = 1 q n + 1 1 q {\displaystyle \sum _{k=0}^{n}q^{k}={\frac {1-q^{n+1}}{1-q}}}

Hierbei ist entsprechend q = Δ x 2 x 2 , AP {\displaystyle q=-{\tfrac {\Delta x_{2}}{x_{2,{\text{AP}}}}}} mit | q | 1 {\displaystyle \vert q\vert \ll 1} zu wählen.

Einsetzen liefert die Linearisierung

1 1 + Δ x 2 x 2 , AP 1 Δ x 2 x 2 , AP {\displaystyle {\frac {1}{1+{\frac {\Delta x_{2}}{x_{2,{\text{AP}}}}}}}\approx 1-{\frac {\Delta x_{2}}{x_{2,{\text{AP}}}}}}

Analog lässt sich der Nenner des obigen Bruchs linearisieren. Die linearisierte Division lässt sich schreiben durch:

y x 1 , AP x 2 , AP ( 1 + Δ x 1 x 1 , AP Δ x 2 x 2 , AP ) {\displaystyle y\approx {\frac {x_{1,{\text{AP}}}}{x_{2,{\text{AP}}}}}\cdot \left(1+{\frac {\Delta x_{1}}{x_{1,{\text{AP}}}}}-{\frac {\Delta x_{2}}{x_{2,{\text{AP}}}}}\right)}

Linearisieren gewöhnlicher Differentialgleichungen

Ein bekanntes Beispiel für die Linearisierung einer nichtlinearen Differentialgleichung ist das Pendel. Die Gleichung lautet:

y ¨ ( t ) + D y ˙ ( t ) + ω 2 sin ( y ( t ) ) = 0 {\displaystyle {\ddot {y}}(t)+D\cdot {\dot {y}}(t)+\omega ^{2}\sin(y(t))=0}

Der nichtlineare Teil ist sin ( y ) {\displaystyle \sin(y)} . Dieser wird für kleine Schwankungen um einen Arbeitspunkt y 0 {\displaystyle y_{0}} approximiert durch:

sin ( y ) sin ( y 0 ) + cos ( y 0 ) ( y y 0 ) {\displaystyle \sin(y)\approx \sin(y_{0})+\cos(y_{0})\cdot (y-y_{0})}

Mit dem Arbeitspunkt y 0 = 0 {\displaystyle y_{0}=0} gilt:

sin ( y ) y {\displaystyle \sin(y)\approx y} und damit die linearisierte Differenzialgleichung
y ¨ ( t ) + D y ˙ ( t ) + ω 2 y ( t ) = 0 {\displaystyle {\ddot {y}}(t)+D\cdot {\dot {y}}(t)+\omega ^{2}\cdot y(t)=0} .

Diese linearisierten Differentialgleichungen sind meist deutlich einfacher zu lösen. Für ein mathematisches Pendel (wähle D = 0 {\displaystyle D=0} ) lässt die Gleichung durch einfache Exponentialfunktionen lösen, wobei die nicht-linearisierte nicht analytisch lösbar ist. Weitere Details über das Linearisieren von Differentialgleichungen sind in dem Artikel über die Zustandsraumdarstellung beschrieben.

Tangentialebene

Darstellung als Signalflussplan

Soll eine gegebene Funktion f ( x 1 , x 2 ) {\displaystyle f(x_{1},x_{2})} in einem Punkt x 10 , x 20 {\displaystyle x_{10},x_{20}} linearisiert werden, wird sich der Taylor-Formel bedient. Das Ergebnis entspricht der Tangentialebene in diesem Punkt.

Für die Funktion f ( x 1 , x 2 ) {\displaystyle f(x_{1},x_{2})} gilt in der Umgebung des Punktes x 10 , x 20 {\displaystyle x_{10},x_{20}} :

y = f ( x 10 , x 20 ) = const. + f ( x 1 , x 2 ) x 1 | x 10 , x 20 ( x 1 x 10 ) + f ( x 1 , x 2 ) x 2 | x 10 , x 20 ( x 2 x 20 ) = Δ y {\displaystyle y=\underbrace {f(x_{10},x_{20})} _{={\text{const.}}}+\underbrace {{\frac {\partial f(x_{1},x_{2})}{\partial x_{1}}}{\bigg |}_{x_{10},x_{20}}\cdot (x_{1}-x_{10})+{\frac {\partial f(x_{1},x_{2})}{\partial x_{2}}}{\bigg |}_{x_{10},x_{20}}\cdot (x_{2}-x_{20})} _{=\Delta y}}

Beispiel:

f ( x 1 , x 2 ) = x 1 x 2 {\displaystyle f(x_{1},x_{2})=x_{1}\cdot x_{2}}

ergibt die Tangentialebene

y = x 10 x 20 = const. + x 20 ( x 1 x 10 ) + x 10 ( x 2 x 20 ) = Δ y {\displaystyle y=\underbrace {x_{10}\cdot x_{20}} _{={\text{const.}}}+\underbrace {x_{20}\cdot (x_{1}-x_{10})+x_{10}\cdot (x_{2}-x_{20})} _{=\Delta y}}
Wikibooks: Linearisierung von resistiven Sensoren – Lern- und Lehrmaterialien
  • Skript der TU Wien (Memento vom 23. Juli 2006 im Internet Archive)
  • Skript der ETH Zürich
Normdaten (Sachbegriff): GND: 4199872-8 (lobid, OGND, AKS)